Die neuste Ausgabe der Zeitschrift Tangram der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) befasst sich mit der Definition und der Wahrnehmung von Rassismus heute. In welcher Form zeigt er sich in der Schweiz? Gibt es in unserem Land einen institutionellen Rassismus? Was hat sich mit dem Tod von George Floyd verändert? Inwiefern ist Antirassismus neu zu überdenken? Diese Nummer des Tangram macht deutlich, dass nach wie vor viele Menschen von Rassismus im Alltag betroffen sind. Die Stärkung des gesetzlichen Diskriminierungsschutzes wäre eine angebrachte Antwort darauf.
Der Kampf gegen Rassismus ist 2020 weltweit auf Resonanz gestossen. Der Tod des Afroamerikaners George Floyd, der in Minneapolis unter dem Knie eines weissen Polizisten erstickte, hat in der Schweiz wie in vielen anderen Ländern eine Welle der Empörung ausgelöst. Seither wird in der Gesellschaft und in den Medien eine Debatte über den Umgang unseres Landes mit Rassismus geführt. Die neue Nummer des Tangram setzt sich mit der Rassismusproblematik in der Schweiz 2020 auseinander.
«Es öffnete sich ein günstiges Zeitfenster, um über Rassismus zu sprechen», sagen die Pädagogin Myriam Diarra und die Soziologin Franziska Schutzbach. Die beiden Expertinnen stellen eine grössere Beachtung des Phänomens in der Bevölkerung fest, gleichzeitig jedoch auch eine heftigere Abwehrreaktion gegen seine Thematisierung: «Je selbstbewusster die Forderungen nach Veränderung vorgetragen werden, desto aggressiver wird versucht, diese abzuwehren und den Status quo zu wahren.» In einem Interview über die Entwicklung der Rassismus- und Antirassismus-Debatte der vergangenen 30 Jahre weist die Soziologin Monique Eckmann darauf hin, dass Rassismus ein schwieriges Thema bleibt, auch weil er sich oft latent, unbewusst äussert. «Auch deshalb werden die Rassismuserfahrungen der Betroffenen immer wieder geleugnet. Das gilt für alle Formen von Rassismus, ob Antisemitismus, Antiziganismus oder Anti-Schwarze-Rassismus. Es besteht noch immer nicht genügend Bewusstsein dafür, dass Rassismus ein reales gesellschaftliches Problem ist.» Für die Expertin für antirassistische Pädagogik liegt die grosse Herausforderung gegenwärtig darin, einen dringend notwendigen inklusiven gesellschaftlichen Dialog der Erinnerung zu führen, der unterschiedliche Perspektiven zulässt.
Gegen die in diesem Tangram thematisierten Probleme werden von der EKR seit langem verschiedene Massnahmen gefordert, insbesondere ein besseres Verständnis der Rolle der Schweiz in der Geschichte des Kolonialismus oder eine grössere Aufmerksamkeit für den spezifischen Rassismus gegen Schwarze. Rassendiskriminierung bleibt in der Schweiz sehr präsent und zeigt sich meist im Alltag: bei der Arbeit, der Wohnungssuche und im öffentlichen Raum. «Viele weisse Schweizerinnen und Schweizer realisieren nicht, dass rassistische Vorannahmen noch immer viele Entscheidungen beeinflussen – zum Beispiel, wer eine Wohnung oder eine Stelle bekommt oder als potentiell kriminell eingeschätzt wird. Dadurch entsteht eine Kluft in der Bevölkerung: die einen behaupten, es gebe kaum oder gar keinen Rassismus, die anderen erfahren ihn Tag für Tag», sagt die Philosophin Patricia Purtschert.
Seit langem weisen die EKR und andere gesellschaftliche Akteure darauf hin, dass es neue gesetzliche Bestimmungen braucht, um den Kampf gegen Rassismus im Alltag zu verstärken. Die Lücken in diesem Bereich haben eine doppelte Konsequenz: Sie schwächen alle Massnahmen gegen Rassismus ab und berauben die rechtlichen Mittel ihrer abschreckenden und präventiven Wirkung. Angesichts der in der Zivilgesellschaft und in diesem Tangram angestossenen Debatten und Reflexionen plädiert die EKR für eine Verschärfung der zivilrechtlichen Bestimmungen gegen Rassendiskriminierung.